Mittwoch, 3. März 2010

unschuld

es kommt vor, dass ich am abend vor dem einschlafen noch lese. gemeint ist damit nicht das kataloge- oder frauenzeitschriftenblättern, dass ich allabendlich vornehme, sondern die aktive rezeption eines buches belletristischer art. ich lese nicht oft. das ist berufsbedingt. wer den ganzen tag liest, will am wochenende und am abend mal ausspannen. wenn ich aber lese - weil mein befreundetes und verwandtes umfeld mal wieder dachte, mit büchern kann man bei mir nichts falsch machen - dann lese ich keine mädchenwunderromane, dann lese ich heimatliteratur. ich lese christoph heins "frau paula trousseau". herr hein ist mein nachbar, ich treffe ihn oft beim bäcker oder beim obstmann. ich kenne sein trauriges schicksal, weil sein sohn bücher darüber schreibt. ich denke oft: man, der arme herr hein. und ich sage zu meinem mann, starr den herrn hein nicht so an, der ist auch nur ein mensch. neulich saß ich in der straßenbahn neben ihm und mit uns ein mann, der herrn hein sofort auf literatur ansprach, die früher besser, substantieller und näher am (werktätigen) menschen war. ich weiß nicht, ob herr hein diesen mann von früher kannte oder aus der nachbarschaft, aber er unterhielt sich sehr freundlich mit ihm und diese menschennähe hat mich sehr für ihn eingenommen. sonst ist er ja eher schüchtern, aber als schriftsteller nimmt er seine verantwortung wahr. das gefällt mir. und gestern las ich bei ihm:
Ein weißes Blatt, eine leere Leinwand, das ist etwas Heiliges, das man zu berühren sich scheuen sollte. Es ist ein Tabu, verstehen sie? Und ein Tabu, das heißt groß oder gar nicht berühren.
ich musste an die materialität eines textes denken, die widerständigkeit des blattes gegen die schrift. die angst, ja eben auch die ehrfurcht vor dem weißen blatt, das gefüllt werden wollte/sollte, früher, als man noch den füller ins papier drückte oder die  buchstaben mechanisch einschlug in die matritze. es ist etwas anderes als tasten zu drücken, die kein papier mehr berühren. meine texte heute lassen diese kommunikation zwischen meiner hand und dem gegenstand, den sie beschreibt, nicht mehr zu. es ist ein schreiben zweiter ordnung. ich weiß nicht mal mehr wie die kleinen schlegel heissen, die ich einmal mit schmerzenden fingern mechanisch auf ein papier mit durchschlag gehämmert habe. heute fällt mir das schreiben leichter, ich muss die grenze zwischen blatt und gedanken nicht überschreiten. meine gedanken sind mit dem bildschirm und der tastatur verwachsen, ich taste den ganzen tag auf telefonen und  leich-pcs buchstaben zu wörtern - immerhin bin ich damit fast noch analog. mit meiner tastatur schreibe ich den text nicht mehr eigentlich, ich organisiere ihn, ich copypaste mich durch gehirn, rechner und netz gleich in ganzen sätzen, ach was: ganzen textpassagen. und der bildschirm wehrt sich nicht. er liefert nur immer neue bausteine, nicht buchstabe für buchstabe, sondern zitat für zitat für zitat. schreiben ist heute keine kunst mehr und kein tabu. jede_r schreibt alles. ich wünsche uns die unschuld zurück und die ehrfurcht und ich möchte vor allem nicht, dass herr hein mir seinen text erklärt. er spricht für mich.

zitat aus: christoph hein: frau paula trousseau. frankfurt a. m. 2007, s.179.

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